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Inklusion – ein sozialer Paradigmenwechsel

Walter Beutler hat seit seiner frühesten Kindheit gelähmte Beine. Er ist in einer Zeit groß geworden, in der Menschen mit Behinderung kategorisch aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Und er sieht eine Gesellschaft, in der sich diese Begebenheiten langsam verändern. Eine ganz persönliche Geschichte über das Thema Inklusion.

Eine Gruppe von Menschen sitzt im Kreis zusammen. Sie halten alle ihre Hände und Füße nach vorne in den Kreis hinein. Foto ist aus der Vogelperspektive aufgenommen. | © pexels

Inklusion kann gelingen, wenn alle an einem Strang ziehen. (pexels)

Die Reife einer Gesellschaft zeigt sich darin, wie weit sie das Faustrecht, das Recht des Stärkeren hinter sich gelassen hat. Gerade der Umgang mit den schwächsten Mitgliedern einer Gesellschaft – mit den Kindern, den Alten, den Behinderten – ist hier ein Gradmesser. 

Ein wichtiger Schritt bei der Überwindung des „Rechts des Stärkeren“ ist die Inklusion. Die selbstverständliche, gesellschaftliche Zugehörigkeit auch von Menschen, die nicht der Norm entsprechen, zum Beispiel von Menschen mit Behinderung.

Die Exklusion von Menschen mit Behinderung

Es ist noch gar nicht so lange her, da sonderte man Behinderte aus dem sogenannten normalen Leben aus. Und oft genug steckte dahinter sogar so etwas wie guter Wille. Ich habe das am eigenen Leib erfahren. Als ich im Jahr 1959 im Kinderspital Basel mit Kinderlähmung angesteckt wurde und danach an den Beinen gelähmt war, behielt man mich bis ins Schulalter, also gut fünf Jahre, im Spital. Zu Beginn war das medizinisch begründet. 

Doch danach befand man, ich hätte im Spital doch die bestmögliche Betreuung, genau das, was ich bräuchte. Zudem würde ich mit meinen besonderen Bedürfnissen meine angestammte Familie – neben den Eltern waren da noch drei ältere Geschwister – zu sehr belasten. In diesem Sinn wurden meine Eltern bearbeitet – bis sie nachgaben. Das war im letzten Jahrhundert …

Aussonderung statt Eingliederung

Später sprach man von der Eingliederung der Behinderten. Eine ganze Betreuungsindustrie entstand und schrieb sich dies auf die Fahne. Eingliederungsstätten, Ausbildungsheime und Wohnzentren entstanden. Sie entsprachen offenbar einem Bedürfnis. 

Allerdings blieb die Eingliederung – sei es bei der Arbeit oder beim Wohnen – eher die Ausnahme. Nicht nur das gesellschaftliche Umfeld war noch nicht so reif, dass es die Menschen mit Behinderung in seiner Mitte willkommen heißen konnte – nein, auch entwickelte der Betreuungssektor, inzwischen zu einem namhaften, staatlich subventionierten Wirtschaftsfaktor angewachsen, eine Eigendynamik, die teilweise dem Bedürfnis der Behinderten nach Selbständigkeit zuwiderlief. Böse Zungen sprachen von einer Aussonderungsindustrie.

Der nächste große gesellschaftliche Schritt war das hehre Ziel der Integration, was zunächst nur ein moderneres Wort für Eingliederung war, also von der Idee her eigentlich nichts Neues. 
Doch diesmal war der gesellschaftliche Boden besser bereitet. Zum Beispiel war ab 2004 in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft, worüber vorgängig landesweit abgestimmt wurde. 

Es handelte sich dabei um den moderateren Gegenvorschlag des Bundesrates zur Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“, die in ihren Forderungen nach Gleichstellung und gesellschaftlicher Teilhabe wesentlich weiter ging. Das Bewusstsein der Menschen ohne Behinderung war diesbezüglich also bereits etwas geschärft. Die Behinderten begannen nun die Gesellschaft zu infiltrieren. Man sah sie vermehrt auf öffentlichen Plätzen und auch an verantwortlichen Stellen. Sie traten selbstbewusster auf und forderten mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Vom Zweiklassensystem …

Doch das Konzept der Integration geht immer noch von einem Zweiklassensystem aus: Es gibt die (noch) nicht Dazugehörigen, die in die „normale“ Gesellschaft eingegliedert werden sollen und – das hingegen ist neu – von der Gesellschaft nun auch faktisch willkommen geheißen werden, indem sie sich für die Aufnahme der Behinderten in ihrer Mitte fit macht. Ziel der Integration ist die Normalisierung der Lebensumstände der Menschen mit Behinderung. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, eine Arbeitsstelle einzunehmen. Sie sollen die Wahl haben, auch außerhalb eines Heimes wohnen zu können. 

Der öffentliche Raum soll auch für sie uneingeschränkt zugänglich sein. Parallel dazu wird der Gesellschaft auch bewusst, dass Behinderte nicht so sehr wegen ihres Defizits behindert sind, sondern in vielfältiger, oft subtiler Weise von ihrer gesellschaftlichen Umgebung behindert werden.

… zur Inklusion

Der Boden ist nun vorbereitet für einen sozialen Paradigmenwechsel. Oder ist es eine stille Revolution? Der Maßstab für gesellschaftliche Teilhabe ist nicht mehr eine Norm – etwa körperliche Unversehrtheit oder Selbständigkeit bei den täglichen Verrichtungen, aber auch ein bestimmter sprachlich-kultureller Hintergrund oder die soziale Herkunft. Vielmehr wird jeder Mensch in seiner Individualität und mit seinen besonderen Fähigkeiten, aber auch Einschränkungen grundsätzlich akzeptiert und als Erweiterung der Gesellschaft wahrgenommen. 

Vielfalt macht eine Gesellschaft farbiger – und robuster. Ein besonderer Mensch wird gar nicht erst – aus lauter Angst und unter der Behauptung eines „Normalen“, das es so gar nicht gibt – ausgegrenzt, um ihn dann mit einigem Aufwand wieder zu integrieren. Vielmehr wird er von Beginn an willkommen geheißen und die Gesellschaft genau um diese Individualität erweitert. Das nennt sich Inklusion. Und das braucht Mut – und ist vorläufig ein Ideal … Doch es ist auch ein logischer Schritt in der gesellschaftlichen Entwicklung. Denn die Ausgrenzung führt zu einer Schwächung des Einzelnen und der Gesellschaft als Ganzes. 

Ein ungeahntes Potenzial liegt brach, solange die Gesellschaft nicht eine Gesellschaft für alle ist. Ich wiederhole: für alle. Denn die Ausgegrenzten sind so oder so Teil unserer Gesellschaft, zumindest physisch, aber meistens und zum Glück auch darüber hinaus – aber eben kein vollwertiger Teil.

UNO-Konvention – ein Schritt in die richtige Richtung

Nun muss das Ideal der Inklusion mit Leben gefüllt werden – ein langer Prozess, der nicht einfach verordnet werden kann. Inklusion wird an den Brennpunkten des Lebens verwirklicht und nirgendwo sonst: in der Schule, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Verkehr, in den Museen, den Kinos, in den Quartieren und den Verwaltungen. Inklusion lebt nur von Mensch zu Mensch. 

Trotzdem müssen die gesellschaftspolitischen Weichen in die entsprechende Richtung gestellt werden. Die „UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ kann diesen Prozess anregen, da ihre Kernforderungen genau in diese Richtung gehen: 

  • Nichtdiskriminierung
  • Chancengleichheit
  • volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben 
  • Barrierefreiheit

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